Vielleicht ein andermal
(...)
In der Kantine gab es Tangpasta in Dreijahres-Fischsoße.
"Jetzt können wir wieder ganz von vorne anfangen." Kon Grabi setzte sich Carl stöhnend gegenüber. Sein Kollege besaß die doppelte Masse wie er. Mindestens.
"Die Strange-Quarks hatten das Wurmloch perfekt stabilisiert, ich verstehe nicht, warum wir es jedes Mal verlieren."
"Es lag nicht an den Quarks, der Zyklotroner hat falsch resoniert", gab ein Tischnachbar seinen Kommentar dazu.
"Vielleicht muss er mal gestimmt werden", witzelte jemand.
"Nein, er hat einfach zu schnell gespielt", meinte ein anderer.
"Dann sollten wir es vielleicht das nächste Mal mit einem Wiener Dirigenten versuchen."
Einige der Kollegen lachten. Carl verschlang indessen frustriert seine Pasta und hatte kaum zugehört. Witze über das, was sie hier taten, hielt er für unangebracht, dafür war ihm das Projekt zu anspruchsvoll. Immerhin lag als potentielle Weltenschöpfer gewissermaßen eine erhebliche Verantwortung auf ihnen allen. Sein Blick wanderte stattdessen immer wieder drei Tische weiter, dorthin, wo die neue Kollegin saß. Vor einem Monat war sie zu ihnen beordert worden. Mona Silbermann.



Soweit es ihm möglich war, ging Carl Frauen aus dem Weg. Das mag überhaupt einer der Gründe dafür gewesen sein, warum er sich für die Physik entschieden hatte. In dieser Sparte tauchten erfahrungsgemäß kaum Frauen auf und man konnte sich hier in Ruhe um die verständlichen Dinge des Lebens kümmern. Die Frage nach der Konstruktion des Universums war für ihn wesentlich vielversprechender als das Erforschen eines weiblichen Quantenzustandes.
Doch nun war eine Vertreterin des unbekannten Geschlechts in seinen Bereich eingedrungen und saß dort in der Kantine, drei Tische von ihm entfernt. Mona Silbermann, Quantenmechanikerin und einen halben Kopf größer als er. Die Frau machte ihn nervös. Sie strotzte nur so vor Schönheit und Selbstbewusstsein. Wo immer sie aufkreuzte, schlug er eine andere Richtung ein, nur um ihrem Blick nicht begegnen zu müssen. Ihre rosarote Seepferdchenfrisur trug sie wie ein Pfau durch die Laboratorien, die letzten drei Knöpfe ihrer Bluse waren stets offen und gaben den Blick auf eine mörderische Falle frei.
Das Versteckspiel hatte zwei Wochen lang gedauert, bis er sich eines Tages dazu gezwungen sah, sie anzusprechen. Ihr Spezialgebiet war der paradoxe Gödelsche dritte Unvollständigkeitssatz und dazu brauchte er ihren Rat.
Tatsächlich hatten sie sich geschlagene drei Stunden lang über die Hochziffer in der zweiten Phase unterhalten. Ein entscheidendes Puzzleteil in ihrem Forschungsprojekt, das bisher nicht gelöst werden konnte. Carl hatte sich dabei gedanklich immer wieder in ihrer Frisur verloren, die er viel zu aufgedonnert und vor allem viel zu rosarot empfand. Auch der Ausschnitt der blendend weißen Bluse, der ihn fast zwanghaft dazu anhielt, bloß nicht allzu offensichtlich in dieses dunkle Tal ihrer eingezwängten Hügel zu schielen, machte die Sache nicht gerade einfach. Doch er musste feststellen, dass diese Frau ihre Hausaufgaben gemacht hatte. Mona Silbermann war sogar dabei, einen Lösungsweg des einzigen wunden Punktes in der Calban-Theorie, dem Gesetz der Masseerhaltung bei der Neuentstehung der Paralleluniversen, auszuarbeiten.


Aber das hatte er erst einige Stunden später begriffen, als er das Gespräch rekapitulierte und sich in Ruhe mit den Einzelheiten ihrer Ausführungen beschäftigen konnte. Seitdem wurde er das Gefühl nicht mehr los, dass sich irgendwo ein Fehler in ihren Berechnungen eingeschlichen hatte. Er konnte es nicht konkretisieren, es blieb ungreifbar wie ein verschwommenes Fragment aus einem Traum, der gerade dabei war, zu verblassen. Nur der Schatten einer Idee, von der er zwar sagen konnte, dass sie existiert, oder gerade eben noch existiert hatte, nun aber nicht mehr greifbar ist.

Während Carl die Pasta in sich hineinschlang, erinnerte er sich wieder an dieses Gespräch. Sein Blick wanderte dabei immer wieder drei Tische weiter. Zu den rosaroten Haaren und dem tiefen Ausschnitt. Mona Silbermann und ihr dritter Unvollständigkeitssatz. Um ein Hundertfaches verschlungener wie die Pasta, die er gerade transformierte.
Transformation, dachte Carl bei sich. Seine Gedankengänge wurden dabei immer wieder von Querschlägern wie Seepferdchenfrisur, rosarot und welch tiefes Tal zwischen ihren Brüsten unterbrochen.
"Ich brauche heute Abend noch die Auswertung über die Tronertoleranz", unterbrach ihn Kon Grabi, der mit diesen Worten aufstand und sich empfahl.
Tronertoleranz. Transformation.
Transformation und Tronertoleranz.
Rosarot.
Tiefes Tal.
Die transtemporale Transformation im Tal der Resonanzwelle bewirkt die Toleranzverschiebung des Zyklotroners. Und zwar im unteren rosaroten Bereich. Genau.
Das war's.
Carl starrte auf den verschmierten Teller und sah es ganz deutlich vor sich. Er hatte den Fehler gefunden. Den Fehler in der Hochziffer der zweiten Phase des dritten Unvollständigkeitssatzes. Ohne über die Folgen seiner Taten nachzudenken, sprang er auf und stolperte zu dem Tisch, an dem Mona Silbermann saß.
"Wir müssen unbedingt miteinander reden ...", wollte er eigentlich sagen, doch heraus kam, bedingt durch den Blick, der sich gegen seinen Willen mal wieder in ihren Ausschnitt verirrte: "Wir müssen uns unbedingt mal mit Ihrem tiefen Tal beschäftigen ..."
Mona Silbermann hob gemächlich ihren Kopf und sah leicht schräg zu ihm auf, drehte genüsslich ihre Pasta auf die Gabel und blickte anschließend sichtlich amüsiert in die Runde der Männer, die um sie herum saßen. Alle grinsten schief und hämisch in sich hinein, als hätte jemand einen schmutzigen Witz erzählt. Während Carl bewusst wurde, was er da gerade von sich gegeben hatte, formulierte sie ...


... ihre Antwort.