Relikt


MäSyann passte den Assistenten an der dritten Kreuzung ab. Sie bedeckte ihr Vorhaben mit einem Schleier und mimte die gedankenversunkene Biologin, die sich auf den Inhalt des Tiefkühlbehälters in ihrer Klaue konzentrierte und wie zufällig neben TöDek in denselben Stollen einbog. Seit eineinhalb Jahren bohrten sich die Wissenschaftler kreuz und quer durch den Mondkern, trafen aber selten auf eine intakte Fundstelle. Mittlerweile durchzog ein verworrenes Labyrinth aus Stollen und Tunneln das Gestein und verband die Ausgrabungsstätten mit den Forschungseinrichtungen.
Der Behälter in ihrer rechten Mittelgreiferklaue beinhaltete Erstaunliches: Siebzig Millionen Jahre alte Samenkapseln, die uralte Keime in sich rugen. MäSyann benutzte die kleinen Haken in ihren Krallenballen, um an der Felswand entlangzulaufen und so die Kontrolle über ihre Körperbewegungen zu bewahren, während sich TöDek, der Paläontologengehilfe, durch die Fastschwerelosigkeit treiben ließ. Mit dem Rundumblick ihrer Facettenaugen konnte die Biologin den jungen Kerl ins Visier nehmen, ohne den Kopf zu wenden. Dennoch bemerkte der Assistent, dass er beobachtet wurde und vibrierte nervös mit seinen Kiefertastern. Nie zuvor hatte MäSyann eine solche Blockade gespürt, nicht nur bei ihm, sondern bei allen fünf Mitgliedern der Gruppe, die sich seit Tagen bei ihnen befanden. Ganz offensichtlich hatten sich die Paläontologen das während ihrer langjährigen Exkursionen an abgeschiedenen Orten antrainiert. Mittlerweile hatte auch der Letzte begriffen, dass die Individualisierung nicht mehr aufzuhalten war, ihre Gesellschaft befand sich an der Schwelle zu einer neuen Ära. Abschottungen vom Schwarmbewusstsein, persönliche Geheimnisse, eigenbrötlerische Anwandlungen waren an der Tagesordnung, doch in der Gruppe rund um PoKahn ging etwas vor, das sie vor dem Rest der Gemeinschaft um jeden Preis geheim halten wollten. MäSyann beabsichtigte, der Sache auf den Grund zu gehen und versprach sich bei dem jungen Assistenten am ehesten, die Blockade durchbrechen zu können.


Was für ein hübscher Kopf, dachte sich MäSyann ganz nebenbei, bevor sie zum Angriff überging. Sie ließ den Behälter los, versprühte eine wohlproportionierte Pheromonwolke in TöDeks Richtung, stieß sich von der Wand ab, drehte sich im Flug und umfasste seinen Körper mit fünf ihrer Gliedmaßen, während das sechste über seinen Gaster strich, unter dem sich seine Hoden befanden. TöDek wirkte fast erschrocken und versuchte sogar, sich aus ihrem Griff zu befreien. Das hatte sie noch nie erlebt. Männer waren in der Regel augenblicklich bereit und erregt, sobald sie von einer Königin umnebelt wurden. Sie war zwar erst eine angehende Gebärerin, doch hin und wieder hatte sie ihre spezifische Fähigkeit bereits ausgetestet.
»Ich muss ... wir haben ein Problem mit den ...«, versuchte sich der Junge herauszuwinden.
»Du bist doch nicht etwa schüchtern?«, zischelte sie und stimulierte ihn zusehends. Amüsiert registrierte sie, dass der Junge gegen seine Natur keine Chance hatte. TöDek ließ es benommen geschehen, und auch MäSyann ließ seine Erregung in ihr Bewusstsein fließen. Wenn sie sich zugänglich gab, würde sich der Junge vielleicht ebenfalls öffnen.
In der Evolution ihrer Spezies war die Übertragung der Lustgefühle auf andere eine Entwicklung, die auf einer allgemeinen empathischen Verbindung beruhte. Die Wogen TöDeks sexueller Erregung schwappten auf sämtliche der momentan vorhandenen Bewohner des Mondkerns über. Was immer die 34 Kolleginnen und Kollegen gerade taten, sie taten es beschwingter.
Obwohl der Assistent augenblicklich auf MäSyanns Stimulierung ansprach, blieb sein Innerstes undurchdringlich.
»Ihr habt da oben bei dem Kometen wirklich interessante Dinge entdeckt. Aber kann es sein, dass es da etwas gibt, das wir nicht wissen sollen?«, kam sie direkt zur Sache.