Das Gespenst
(...)
Ich erinnerte mich, dass es am Tag der Beerdigung ebenfalls geregnet hatte. Ein leichter, dauerhafter Nieselregen, der die ganze Welt mit seiner grauen Traurigkeit einhüllte. Die Zeremonie fand auf dem Friedhof im Stadtteil St. Georgen satt, in dem wir wohnten. Neben Tochter Julia und ihrer Familie, einigen Arbeitskollegen und versprengten Verwandten waren auch die Freunde der Familie anwesend. Diese Freunde hatten sich im Laufe der Jahre in Helgas Seelenverwandtschaften und meinem SC-Fanclub unterteilt und traten ihrer Natur entsprechend nie gleichzeitig am selben Ort auf. Die Beerdigung nötigte indessen einen Ausnahmefall herbei.
Ein ganz spezieller Seelenverwandter von Helga war Rudolf Valerius Walenskij. Er war zusammen mit seiner eingeschworenen Gruppe gekommen, in der er so etwas wie eine Leitfigur repräsentierte. Ich hatte ein distanziertes Verhältnis zu den Freunden meiner Frau und wusste nicht sehr viel über sie, nur dass sie sich mit spirituellen Dingen beschäftigten. Die meisten Mitglieder der Gruppe bestanden aus Frauen, gut aussehend und in den besten Jahren. Keine von ihnen trug Schwarz. Inmitten der Begräbnisgesellschaft wirkten sie wie ein Haufen verirrter Paradiesvögel, die in einem Feld voller Raben gelandet waren. Mit erhobenen Häuptern lauschten sie der Ansprache des Pfarrers, während der Regen leise durch die Blätter der Bäume raschelte. Obwohl dies ein Tag der Trauer war, lag ein zufriedenes und seliges Lächeln über all ihren Gesichtern.
Walenskij trug immerhin einen dunkelgrauen Anzug, sein Hals steckte in einem langen, blauvioletten Schal, der vorne und hinten an ihm herabhing. Die dunklen Haare kräuselten sich in kurzen Naturwellen, seine klaren, hellen Augen beobachteten wachsam die Szene, sie wirkten ernst und hatten dennoch etwas Kindliches an sich. Der breite, wohlwollend grinsende Mund verkündete lautlos die Botschaft, dass er über Dinge Bescheid wusste, von denen wir normal Sterbliche keine Ahnung hatten. Wie die meisten Gäste hatte er einen Regenschirm aufgespannt. Das seltsame daran war nur, dass er ihn von sich weg hielt, gerade so, als würde er eine unsichtbare Person vor dem Regen schützen, die neben ihm stand.
Bereits vor Beginn der Zeremonie, als die Reihe der Trauergäste an mir vorübergezogen war, um mir ihr Beileid auszudrücken, hatte Walenskij mir mit seinem allwissenden Lächeln die Hand gedrückt und gesagt: "Sie dürfen niemals vergessen, dass der Himmel bereits hier, gleich über dem Boden beginnt!"
Auch andere Mitglieder seiner Gruppe hatten mir ähnlich mysteriöse Dinge mit auf den Weg gegeben. Eine Frau, die mit ihren wilden, weinroten Haaren und einer farblich passenden Ledergarnitur aussah, als wäre sie geradewegs mit einem Motorrad angereist, flüsterte mir ins Ohr: "Nun ist sie frei und kann gehen, wohin sie will!"
Und eine andere, ich glaubte mich zu erinnern, dass ihr Nachnahme Engelbrecht war, behauptete sogar, Helga wäre ihr bei einer spirituellen Sitzung erschienen. Die spindeldürre Frau besaß ein offenes und ehrliches Gesicht, welches von einem voluminösen Wuschelkopf aus angegrauten Locken umrahmt wurde und den Rest ihres Körpers umso schmächtiger erscheinen ließ.
"Grämen Sie sich nicht", sagte sie und blickte mich mit leuchtenden Augen an, "es geht ihr gut und sie lässt Sie ganz herzlich grüßen!" Ich warf meine Blumen auf den hölzernen Sarg, der dort unten in dem ausgegrabenen Schacht lag und wünschte mir, es wäre wahr, was diese Menschen behaupteten.
Die Sitzverteilung beim anschließenden Leichenschmaus hatte vorgesehen, dass ich mich bei den Seelenverwandten des SC wiederfand. Dementsprechend fielen die Kommentare und hilflosen Versuche, mich zu trösten, eher nüchtern aus.
"Da steckt man eben nicht drin."
"Zum Glück hat sie ja nichts gespürt."
"Irgendwann erwischt es halt jeden von uns."
Deckel zu, Erde drauf und das war's.