Die zweite Generation


Als Hong zusammen mit Matheo in den länglichen, unförmigen Schacht kam, fielen ihr sofort die vielen Lichter auf. Kleine, längliche Leuchtkörper, die hier aus den Wänden wuchsen und die Umgebung unwirklich in gelbes Licht tauchten. Dazwischen lagen die Kapseln. Willkürlich im Raum verstreut und eingebunden in die Struktur der Wände, mit denen sie mehr oder weniger verwachsen waren.
Harold war vorausgeschwebt und wartete neben einer der eiförmigen Konstruktionen. Er war es, der den Schacht entdeckt hatte. Der verklemmte Lockenkopf mit der blassen Haut hatte seinen Unterleib mit frischen Schleiergespinsten umwickelt und mit Streifen einer Pflanzenhülle festgezurrt. Der einzige Zweck war, seine Erektion zu kaschieren, die ihm gelegentlich in der Nähe der kleinen, sportlichen und vor allem nackten Asiatin überkam.
Hong klopfte ihm anerkennend auf die Schulter, dann sah sie sich nach Matheo um und winkte ihn herbei. Der ebenfalls nackte, für ihren Geschmack jedoch zu schmächtige und hässliche Mann mit dem Schlafzimmerblick gesellte sich zu ihnen. Die Haut der drei glänzte im Licht der Lampen. Auch hier herrschte eine schwüle Atmosphäre, dessen hohe Luftfeuchtigkeit ihre Körper stets mit einem feuchten Film überzog.
Hong betrachtete das zwei Meter hohe Gehäuse. Sie wusste seltsamerweise sofort, worum es sich handelte: Eine sogenannte Patruskapsel, in deren Geburtskammer Genolythen hochgezogen wurden. Für Hong war das ein Zeichen, dass ihr Gehirn immer noch gut funktionierte, auch wenn sie sich an ihr bisheriges Leben nicht mehr erinnern konnte. Irgendwie war ihr die Vergangenheit abhandengekommen. Doch das, worauf es ankam, wusste sie noch - und nur das war wichtig. Sie drehte sich zu Matheo und Harold um, beide nickten ihr verstehend zu. Mitten in ihren Gesichtern saßen die hässlichen Filterpilze wie Geschwüre und verhinderten, dass sie miteinander sprechen konnten. Aber anscheinend hatten die beiden Männer die Kapseln ebenfalls als das erkannt, was sie waren.
Hong überflog den Raum und fragte sich, wie viele der Kapseln noch funktionstüchtig sein mochten. Ein hauchdünner Stoff spannte sich über die Apparaturen, darüber lag ein Geflecht aus organischem Draht, in dem unzählige Erbsenknöpfe eingebunden waren.


Aus den Augenwinkeln nahm Hong wahr, wie Nummer Neunzehn kopfüber in den Schacht herein gepurzelt kam. Sie blickte kurz zu der Frau, die ihnen wie immer gefolgt war und nun versuchte, sich wankend auf die Füße zu stellen. Ihre dunkelblonden, wirren und feuchten Haare verklebten ihr längliches Gesicht, das abgerissene Kleid aus dem hiesigen Biomaterial war nahe daran, zu verfaulen. Hong empfand für die Behinderte lediglich eine Mischung aus Abscheu und Verachtung. Diese traurige Gestalt hatte die Wiederbelebung nicht ganz unbeschadet überstanden und war zu nichts mehr zu gebrauchen. Unter ihrem rechten Arm hatten sie diese Ziffer gefunden. Bereits reichlich verblasst, aber immer noch gut lesbar. Irgendjemand hatte sie vor dem Start mit der Nummer Neunzehn markiert, aber es war nicht klar, wozu oder weshalb. Die Frau konnte nicht mal mehr bis zwei zählen. Und da weder sie noch einer der anderen Überlebenden ihren Namen kannte, nannte man sie einfach Nummer Neunzehn.
Wie Hongs Vergangenheit war auch die der anderen ausgelöscht. Niemand aus der Truppe wusste noch, was vor dem Start passiert war. Die Asiatin war sich auch nicht sicher, ob Hong ihren Vor- oder Familiennamen darstellte, doch dieser Name war eines der wenigen Dinge, die sie in ihrer Erinnerung gefunden hatte. Wie selbstverständlich hatte sie das Kommando übernommen. Es hatte keine Diskussion gegeben, bis heute nicht. Sie erteilte Anweisungen und die anderen befolgten sie. Kein Zweifel, sie musste früher eine wichtige Position innegehabt haben, so etwas liegt einfach im Blut. Hong wandte sich wieder dem Gewächs zu, welches über die Kapsel gewachsen war und versuchte, das Geflecht vorsichtig von den Armaturen zu entfernen. Der Stoff darunter riss sofort auf und ein Firmenschild kam zum Vorschein: BOAGAS. Der Name eines Konzernimperiums. Es ließ darauf schließen, dass sie in dessen Auftrag hier waren. Helium fiel ihr dazu ein. BOAGAS hatte Helium3 auf dem Erdmond abgebaut. Hong versuchte, etwas von ihrer Person mit dem Namen zu verbinden, doch da war nichts.
In der Fastschwerelosigkeit glitt sie von einer Kapsel zur nächsten. Einige sahen ziemlich mitgenommen aus, doch die meisten machten einen ordentlichen Eindruck.
Unterwegs kam Hong an einer Ansammlung der Lichtquellen vorbei. Sie musste schmunzeln, denn sie fand, dass sie bei näherer Betrachtung wie aufgerichtete Kondome aussahen. Die Lampengewächse waren ohne erkennbares Muster im Raum verteilt und standen meist in Gruppen beieinander. Als sie eines von ihnen berührte, fühlte es sich genauso an, wie es aussah: Ein mit Gas gefüllter Gummi. Die kleine Ballonpflanze reagierte sofort auf die Berührung, erlosch für einen Moment und sackte wie ein verschrecktes Tier in sich zusammen. Kurz darauf beobachtete sie amüsiert, wie sich das Ding langsam wieder mit leuchtendem Gas füllte und erneut aufrichtete.
Hong widmete sich der nächsten Kapsel und beschloss, sie aus der Wand zu befreien. Sie gab Matheo und Harold entsprechende Handzeichen. Dann zerrte sie das wuchernde Geflecht beiseite, während die beiden Männer einen Griff oder Halt an dem Gehäuse suchten. Alle drei stemmten sich gegen die nachgiebige Wand und zogen an der Kapsel. Sie löste sich schneller als gedacht, der plötzlich frei werdende Schwung ließ sie bis zur gegenüberliegenden Wand trudeln. Dort federten sie sich ab, suchten sich neuen Halt und stellten die Apparatur einigermaßen gerade auf einem Vorsprung ab. Das Ding wog bei der kaum vorhandenen Schwerkraft keine zehn Kilo. Nummer Neunzehn hatte sich in einer Mulde niedergelassen und beobachtete mit glasigem Blick, was ihre Begleiter da taten.


Matheo begann sofort, die Kapsel zu untersuchen. In einem Schubfach, das sich mit mehreren Handgriffen öffnen ließ, fand er eine komplette Bank mit konservierten Embryonen. Sie befanden sich im Zustand der Organogenese und waren zirka fünfzehn Millimeter groß. Hong betrachtete die Winzlinge und fragte sich, ob es nicht platzsparender gewesen wäre, lediglich befruchtete Eizellen einzulagern. Doch sie hatte keine ausreichenden Kenntnisse über die Genolythologie oder konnte sich nicht daran erinnern. Pulverisierte Nährstoffe, pharmazeutische Präparate, alles Wichtige schien vorhanden zu sein, um die Kapsel in Betrieb zu nehmen - bis auf Wasser und die benötigte Energie. Hong sah, dass Matheo auf der Rückseite noch eine Wartungsklappe gefunden hatte. Das Innenleben der Patruskapsel sah angegriffen aus, nur ein Test würde zeigen, ob sie noch funktionstüchtig war. Eigentlich waren diese Dinger so konstruiert, dass sie mehrere Jahrhunderte unter extremsten Bedingungen überdauern sollten. In einem weiteren Fach befand sich diverses Werkzeug, dass sich sicher noch als nützlich erweisen würde. Außerdem fand Hong ein undefinierbares, bolzenförmiges Teil, an dem seitlich eine Schiene eingelassen war. Es war nur behelfsmäßig befestigt und Hong konnte sich keinen Reim darauf machen. Es gehörte nicht zum Mechanismus der Kapsel und hatte keine erkennbare Eigenfunktion. Sie klemmte es los, nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger und zeigte es den beiden Männern. Matheo und Harold schüttelten die Köpfe und zuckten mit den Schultern.
Sie behielt den Bolzen zusammen mit dem Werkzeug in ihrer Hand und sah sich noch einmal um. Sie hatte dreiundzwanzig Geburtskapseln gezählt. Ihre Gastgeber hatten sie in diesem Schacht gehortet. Vielleicht hatte das einen bestimmten Grund. Aber wo war der Rest der Ausrüstung? Wo war das Raumschiff, mit dem sie gekommen waren?
Bislang hatten sie die geheimnisvollen Unbekannten nicht zu Gesicht bekommen und Hong gefiel das nicht. Sie fand, dass Matheo in dieser Sache viel zu naiv war. Hong nannte den älteren, dürren Mann mit den eng stehenden und müden Augen, der langen Nase und den nervösen Händen manchmal auch Professor, denn er war ganz offensichtlich Mediziner. Matheo zeigte jedoch auch auf anderen Gebieten weitreichende Kenntnisse. Der Alte war alles andere als dumm, aber er bildete sich ein, dass es sich bei den Fremden um nette Leute aus der galaktischen Nachbarschaft handelte. Er begründete dies mit der Tatsache, dass sie die Menschen am Leben erhielten und einen Raum mit passender Atmosphäre bereitgestellt hatten. Vielleicht war aber alles auch ganz anders. Vielleicht hatte man sie überfallen, entführt und anschließend das Gedächtnis gelöscht.
Die Asiatin zog keine voreiligen Schlüsse, aber sie wollte auf alles gefasst sein. Es gab nur einen Weg, sich Klarheit zu verschaffen: Sie mussten das Raumschiff finden. Dort gab es Logbücher.
Dort würde es Antworten geben.