Das rote Gras
Aufgrund des aufkommenden
Schwindels, der sie
seit ihrer Rückkehr verfolgte
und soeben erneut übermannte,
musste sich Susanova
am Eingangsrahmen des Restaurants
festhalten. Der Raum vor
ihr schwankte. Oder war es das
Vakuum in ihrem Kopf, das ihre
Umgebung aus den Fugen löste?
Du hättest doch besser zu Hause
bleiben sollen, dachte sie.
Nein! Sie will das jetzt durchziehen.
Tagelang hatte sie den
Anruf vor sich hergeschoben. Er
ist der Letzte außer ihr. Enzo und
Trisha waren untergetaucht und
nicht mehr auffindbar. Hakon hatte einen tödlichen
Unfall gehabt. Mit zweihundertachzig gegen einen
Trassenpfeiler. Vielleicht wollte er auch einen tödlichen
Unfall gehabt haben, das war nicht auszuschließen.
Ein kleines, buckliges Wesen stand vor ihr, es sah
aus wie ein Schimpanse. Unter einem Arm hielt er
ein Tablett geklemmt und in der anderen Hand eine
rote Blume, die er ihr entgegen hielt.
»Sind Sie alleine oder darf ich Ihnen eine Kontaktrose
überreichen?«
Susanovas Blick blieb an der Farbe der Pflanze
hängen. Die Kelchblätter der Blütenkrone, obgleich
aus Papier, leuchteten ihr in einem frischen, hellen
Rot entgegen. Reflexartig streckte sie ihre Hand
danach aus und wollte sie schon
an sich nehmen. Doch sie bremste
sich im letzten Moment ab. Sie
hatte keine Ahnung, was dieses
Angebot des vermeintlichen Kellners
zu bedeuten hatte. Außerdem
fragte sie sich, seit wann Affen
sprechen konnten. Draußen waren
bereits diese widerlichen Putenengel
herumgeflogen. Es war
ihr alles zu viel. Der Schimpansenkellner
in seiner weinroten
Hose, der Schürze, dem weißen
Hemd und der Papierrose in seiner
Hand sah aus wie ein Clown.
Er lächelte sie mit geradezu unnatürlich
weißen Zähnen an und
wartete auf eine Reaktion. Er grinst wie eine Animationsfigur,
dachte sie sich. Aber die Augen, die Augen.
Sie sind so unwissend. So unschuldig. Sie glänzen
in diesem künstlichen Licht und sehnen sich
nach etwas Grünem. Tatsächlich bildete sich eine
Träne und suchte sich ihren Weg über die haarige
Wange.
Nein, nein. Sie bemerkte, dass sie sich an einem
Automaten abstützte, der neben dem Eingang stand.
Anhand des Oximetriebandes an ihrem Handgelenk
überprüfte sie ihre Werte. Der Blutdruck war wie
meistens zu niedrig, während sich der Puls soeben
wieder normalisierte. Im projizierten Spiegel warf
sie noch einen kurzen Blick auf ihr Abbild. Jedes
Mal erschrak sie aufs Neue, wenn sie die dünn
die eingefallenen Wangen sah. Sie wischte sich eine
ausgebleichte Strähne aus dem hageren Gesicht,
rückte den notdürftig zusammengebundenen Haarschopf
an ihrem knöchernen Hinterkopf zurecht
und knipste das Gerät aus. Anschließend sah sie an
sich herunter und bemerkte, dass sie schon wieder
das rote Kleid an hatte. Rot, flüsterte sie in ihren
Gedanken, immer wieder Rot. Sie konnte anziehen,
was sie wollte, früher oder später verwandelte es
sich immer in das rote Kleid.
Susanova blickte sich um und versuchte, etwas zu
erkennen. Das familienfreundliche Restaurant war
gut besucht, überall saßen Menschen, Kinder und
Monster. Am Fenster entdeckte sie ihn schließlich.
Sie stakste an dem traurigen Affenkellner vorbei,
der noch immer auf ihre Antwort wartete und sich
die Träne aus dem Gesicht wischte.
Konstantin blickte gelangweilt auf die Plaza hinaus.
Vor ihm auf dem Tisch stand ein Kelchglas, um
die eine flaschengroße und alberne Comicfigur in
Boxershorts herum sprang und gelegentlich darin
rührte.
Mit Mühe und Not bahnte sich Susanova einen
Weg zu seinem Tisch, warf auf halben Weg eine
Pflanze um, die am Rand stand und sofort eine Pollenwolke
freisetzte. Es ist alles zu kompliziert, dachte
sie sich und musste niesen, bis ihr die Tränen kamen.
Als Konstantin hörte, wie sich jemand schniefend
und nach Luft ringend näherte, drehte er sich mit
müden Augen nach ihr um. Seine Unlust, sich mit
ihr zu treffen, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er
ist alt geworden, dachte Susanova. Sogar noch älter
als ich. Von seinen kantigen Wangen liefen mehrere
Falten herab und umklammerten einen blutleeren
Mund, der von fleckigen Bartstoppeln umgeben war.
Die verwahrlosten und angegrauten Haare standen
in alle Richtungen ab, als ob er gerade aus dem Bett
gestiegen wäre. Er trug eine alte Lederjacke, deren
trostlos blaugraue Farbe kaum noch zu erkennen
war. Darunter ein Shirt, das den Anschein erweckte,
als hätte er es seit Wochen nicht gewaschen. Die
einst prächtige und athletische Figur des Astronauten,
die Susanova einst bewundert hatte, war aufgedunsen
und wirkt schlapp.
Ohne ein Wort zu sagen, ließ sie sich ihm gegenüber
auf das Sofa fallen.
Sie brauchte mehrere Minuten, um sich zu sammeln.
Konstantin schien Verständnis dafür zu haben,
jedenfalls wartete er geduldig. Vermutlich
kannte er diese Zustände aus eigener Erfahrung.
»Ich habe lange gebraucht, um mich bei dir zu
melden«, begann Susanova, wie um sich zu entschuldigen.
Konstantin blickte wieder zum Fenster
hinaus.
»Es ist mittlerweile fünf Jahre her«, setzte sie
hinterher, um anzudeuten, dass es vielleicht an der
Zeit wäre, einmal darüber zu reden.
»Wozu darüber reden?«, fragte Konstantin, als
hätte er ihre Gedanken erraten. Seine Stimme klang
träge und matt.
Susanova blickte zum Fenster hinaus und sah
dem Treiben vereinzelter, schwarzer Flocken zu. Die
Aschewolken hingen heute besonders tief, wühlten
sich wie Nebelbänke zwischen den kalten Gebäuden
hindurch. Eine Gruppe Kinder bewegte sich über die
nächtliche Plaza, mit ihren roten Mützen und Mäntelchen
sahen sie wie Zwerge aus, die alle brav in
einer Reihe marschierten.
»Ich weiß nicht ... Vielleicht um herauszufinden,
was hier passiert?«
Der Affenkellner stand plötzlich am Tisch und
wollte wissen, ob die Dame etwas wünsche. Sie fand
den Weg zu dem Treffen schon so anstrengend, dass
es sie fast überforderte, jetzt auch noch eine Auswahl
zu treffen.
»Kaffee«, sagte sie nach einer Ewigkeit, damit sie
irgendetwas bestellte. Konstantin nahm die Comicfigur
von seinem Glas und schmiss sie dem Kellner an
die Brust. »Und nehmen Sie diesen Schwachsinn
hier mit!«
Der Affe hielt die zappelnde Figur unschlüssig in
seinen Händen, dann watschelte er mit seinen OBeinen
davon.
Konstantin ist mit den Nerven genauso am Ende
wie ich, dachte Susanova bei sich.
»Seit wann können Affen sprechen?«, fragte sie
wie beiläufig, um das Gespräch irgendwie in Gang
zu bringen.
»Keine Ahnung. Interessiert mich auch nicht.«
Offenbar bekam Konstantin von den neuesten
Entwicklungen ebenso wenig etwas mit wie sie
selbst. In Wahrheit war es ihr mindestens ebenso
egal, was die Menschen mit sich oder ihren nächsten
Artverwandten anstellten. Sie hatte nicht mehr die
Energie, darüber nachzudenken.
Momentan sammelte sie ihre verbliebene Kraft
für einen weiteren, ziellosen Versuch, Konstantin
aus der Reserve zu locken: »Die Welt hat sich ganz
schön verändert.«
»Wir waren auch lange genug weg.«
Das waren sie. Fast einhundert Jahre hatten sie
übersprungen. Da hatte sich eine Menge verändert.
Neben Menschen gab es nun plappernde Affen und
Monster. Und irgendwie war die Welt trostlos geworden.
Susanova blickte wieder auf die graue Welt
da draußen und wusste nicht mehr weiter. Auch
Konstantin schwieg.