TRIANGULUM
Jören Neelströms linkes Auge tanzte wie verrückt hin und her. Das rechte war noch nicht bereit, überhaupt irgendetwas sehen zu wollen. Das Leben war zurückgekehrt. Auf seiner Zunge schmeckte er immer noch den bitteren Geschmack des Kühlmittels. In ihm und um ihn herum war Eis. Er hatte all das schon einmal erlebt und wusste, dass die anhaltende Kälte lediglich einen Phantomschmerz darstellte, etwas, woran sich seine Körperzellen erinnerten. Doch es half nichts, er fror trotzdem.
Endlose Stunden trieb er von einem Dämmerzustand in den nächsten und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Luna tauchte auf. Sie stand stets an erster Stelle. Ein Delfin durchkreuzte ihr blasses Gesicht, zerteilte es wie ein Spiegelbild im Wasser, schwamm weiter. Immer wieder die Delfine, dachte er sich, sie verfolgten ihn sogar bis hierher.
In seiner Brust wüteten die gefürchteten Schmerzen. Vor vielleicht vier oder fünf Tagen hatte die Wiederbelebungsautomatik seinen Thorax geschlossen und vernäht. Wie alle Besatzungsmitglieder besaß Jören eigens für diese Mission Rippen aus Synthetikfasern, aufklappbar wie eine Doppeltür. Der Vitrifikationseinheit musste ein optimaler Zugriff auf die inneren Organe gewährt werden. Dennoch waren die Knochen noch immer mit lebenden Zellen seines ursprünglichen Körpers überzogen und diese reagierten entsprechend. Die Dosis des Betäubungsmittels war so abgestimmt, dass er nicht in die Bewusstlosigkeit zurückfiel und wirkte nur bedingt. Das Einfrieren und Auftauen eines Menschen war eine schmerzhafte und hochkomplexe Operation, die nicht allzu oft wiederholt werden sollte.
Jören hing an einem kompletten System lebenserhaltender Schläuche, das medizinische Programm überwachte seine Körperfunktionen. Es gab hier keine menschliche Seele, die ihm hätte helfen können. Alles hing von einer funktionierenden Automatik ab.
Der Tank hatte sich geöffnet. Verschwommen nahm er wahr, wie seine rechte Hand montiert wurde. Augenoptik, Hörsysteme und Stickerports saßen wieder an ihren Plätzen, doch ihre Reanimation warf mehr Probleme auf als die seines biologischen Restkörpers.
Er versuchte, sein linkes Auge auf einen festen Punkt zu fokussieren. Undeutlich erkannte er den Raum. Das Licht war auf halbe Leuchtkraft gedimmt, um nicht zu blenden. Eisige Dampfschwaden trübten die zittrige Sicht. Er befand sich in Kryo B, einem knapp sechs Meter durchmessenden Flachzylindermodul. Eines der vielen Einzelbauteile, aus denen sich die F.S. PROKORINOS zusammensetzte. Um ihn herum rumorte es leise und kontinuierlich. Die Geräusche beruhigten ihn, sagten sie ihm doch, dass das Schiff lebte. Die Kryotanks waren in gleichmäßigen Abständen entlang der gebogenen Wand angeordnet, beim Erwachen überblickte man sofort den Raum. Sofern man über funktionierende Augen verfügte.
Jören konzentrierte sich erneut auf den linken Augenmuskel und bemühte sich, ihn ruhig zu halten. Direkt vor ihm ragte eine Kühllagereinheit empor, die Biomaterialien und Stammzellen enthielt. Sie verstellte den Blick auf den gegenüberliegenden Tank. Die beiden Einheiten rechts und links davon waren geschlossen. Hinter den länglichen Sichtscheiben nahm er verschwommen die Schemen von Edman und De Fries wahr. Soweit er es beurteilen konnte, befanden sich beide im verglasten Zustand. Ihre Brustkörbe klafften offen und es war keinerlei Bewegung festzustellen. Seitlich an den Tanks glommen die Statusanzeigen in Blassgrün. Sah ganz nach dem Stand-by-Modus aus, demnach tat sich dort überhaupt nichts. Jören bewegte den Kopf vorsichtig nach links, seine Halssehnen knisterten wie altes Holz. Am Rande seines Blickfeldes ragte der Tank von Makray herein. Die Gestalt hinter dem Glas war nicht zu sehen, doch auch hier glimmten die Anzeigen grün. Rechts von ihm lag Franzetti, doch bei dem Chirurgen waren die Anzeigen abgeschaltet.
Sämtliche Kryotanks in seinem Blickfeld verweilten im Ruhemodus. Jören Neelström war der Einzige, der wiederbelebt worden war. Das bedeutete nichts Gutes.
In unmittelbarer Nähe, auf der anderen Seite einer Versorgungseinheit befand sich Kryo A. Dort steckten sechs weitere Besatzungsmitglieder im Eis. Im Moment sah sich Jören jedoch nicht imstande, irgendwelche Daten aufzurufen, die ihm verrieten, ob im Zwillingsmodul jemand geweckt worden war. Unter anderem lag dort der Kommandant.
Und Luna.
Er schloss sein zappelndes Auge und versuchte, ihr Bild erneut aufleben zu lassen. Aus Nebel formte sich ihr klares, helles Gesicht. Er blickte in dunkle Augen, die im Gegensatz zu ihrer Art eine Spur von Unsicherheit und Scheu in sich trugen. Aus einem eigenwilligen, kleinen Mund hörte er ihre Stimme. Wie sie über Dinge sprach, über die man normalerweise nicht redete.
"Wie ist das, wenn man stirbt?"
Sie war spät zu ihnen gestoßen. Der Großteil der Ausbildung hatte auf dem Mars stattgefunden, so auch die medizinische Schulung, zu der Jören damals unterwegs gewesen war. Er hatte das Röhrenfahrzeug kaum verlassen, als diese neugierige Person neben ihm auftauchte. Schon damals trug sie ihre schwarzen Haare kurz, was sie jünger aussehen ließ, als sie tatsächlich war.
Er kannte diese Fragen. Alle wussten, dass man ihn buchstäblich vom Boden aufgekratzt und aus dem Reich der Toten zurückgeholt hatte. Viele sahen in der zusammengestückelten Menschmaschine, in die er sich verwandelt hatte, ein erforschungswertes Unikat. Jören verspürte grundsätzlich keine Lust, sich als Cyborg zu erklären. Er hatte die Neue nur kurz angesehen und war weitergegangen.
"Ich meine … Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Ich wollte nur wissen, was in so einem Moment in einem vorgeht. Ich heiße übrigens Pérez. Ich meine … Luna."
Jören blieb stehen und drehte sich um. Die Frau war Ärztin und Molekularbiologin und stand da wie ein kleines Mädchen.
"An was würden Sie denn denken, wenn eine Betondecke auf Sie herabstürzt?"
"Tut mir leid. Ich … ich wollte nur wissen, was uns da erwartet. Ich meine, demnächst werden wir schließlich alle sterben."
"Wenn Sie Angst vor dem Tod haben, sollten Sie besser zu Hause bleiben."
"Ich habe keine Angst. Ich wollte mich nur mit jemandem darüber unterhalten. Um genau zu sein, wollte ich mich speziell mit Ihnen darüber unterhalten."
Ihre Neugierde ging über das Naturwissenschaftliche hinaus. Diese Frau beschäftigte sich mit tieferliegenden Fragen und Jören war sich nicht sicher, ob ihm das nicht noch unangenehmer war.
"Und warum mit mir? Weil ich ein lebender Toter bin?"
Er hatte sich umgedreht und sie stehen lassen.
Noch heute hörte er ihre plötzlich fordernde Stimme in seinem Rücken: "Ja, genau!"


Jören bemerkte, dass sein Gehirn noch nicht richtig durchblutet wurde. Seine Gedanken streiften ab, wurden wirr und ziellos. Irgendwo schwamm wieder ein Delfin herum. Im Grunde liebte er die Kälte, aber was zu viel war, war zu viel. Wie Blei saß sie in seinem Körper. Er atmete so flach wie möglich, um den Brustkorb nicht unnötig zu bewegen und versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Kurz vor dem Ziel hätte ein komplettes Team geweckt werden sollen. Jören war jedoch der Einzige, der aus dem Eis geholt wurde, zumindest hier in Kryo B. Er hatte keine Ahnung, wie lange er im flüssigen Stickstoff zugebracht hatte.
Tot zu sein war die einzige Möglichkeit, die lange Reise zwischen den Sternen zu überleben. Während der Kryostase hingen sie alle an seidenen Fäden. Statt Blut befand sich zu Glas erstarrtes Kühlmittel in den Adern, das sie in zerbrechliche Statuen verwandelte. Ein kleiner Rempler von einem Meteoriten reichte aus, um sie in tausend Splitter zerspringen zu lassen. Die Wahrscheinlichkeit dazu war jedoch verschwindend gering. Das Schiff traf im luftleeren Raum kaum auf ein größeres Hindernis als ein Atom. Für diese Kleinstteile existierte an der Spitze des Schiffes ein Abrasionsschild. Was also war passiert?
Sein rechter, kybernetischer Arm war größtenteils noch funktionslos, außerdem hatte er festgestellt, dass ihm die Wiederbelebungsmaschine die Standardhand angedockt hatte. Die Sensorhand, mit der er eine direkte Verbindung zum Schiff hätte herstellen können, lag sinnigerweise in seiner Unterkunft, acht Module von hier entfernt. Sie hätte ihm momentan auch wenig genutzt, solange der Arm außer Betrieb war.
Ein kleiner Teleskopkran hielt ihm aus diesem Grund einen Kommstrap entgegen. Trotz der Schwerelosigkeit kostete es Jören außerordentlich Kraft, seinen linken, menschlichen Arm zu bewegen. Er hob die Hand bis zu dem Multifunktionsarmband, der Teleskopkran drehte den Kommstrap in Position, dann schnappte das Armband zu. Fünf Sensorplättchen klinkten sich aus, krochen über seinen Handrücken bis zu den Fingerspitzen und saugten sich dort fest. Der Kran holte einen Remotestift hervor und schob ihn in die Innenhalterung des Kommstraps. Prüfend bewegte er seine zitternden Finger und tastete den Stift ab, bis es ihm gelang, das Hopro zu aktivieren. Das holistische Projektionsfeld kündigte sich durch ein Blubbern an, kurz darauf erschien das Stand-by-Überwachungsmenü über seinem Armgelenk.
Es kostete Kraft und Nerven, sein linkes Auge wenigstens kurzzeitig unter Kontrolle zu bringen. Mit einer leichten Bewegung seines Zeigefingers weckte er das halbintelligente Primärsystem aus seinem Schlaf. Das HI-System fuhr hoch, lud Protokolle und Komponenten des Betriebssystems, und vor Jörens Gesicht entfaltete sich das virtuelle Benutzerzimmer von Hydra. Sie hatten das interne Primärsystem auf diesen Namen getauft, weil die gesamte Anlage aus vier Köpfen im Sinne von identischen HI-Rechenbausteinen bestand und ihre Ausläufer wie eine vielgliedrige Schlange bis in die hintersten Winkel des Schiffes reichten.
Er sah, wie eine Unzahl grüner und roter Diagramme aufflammte, im selben Moment fiel Hydra wieder in den Stand-by-Modus zurück. Er startete das System erneut, für einen kurzen Moment erschien das Benutzerzimmer und verabschiedete sich sogleich wieder. Jören fluchte. Es sah ganz so aus, als wäre der Weg durch die Kälte nicht spurlos an dem Kasten vorbeigegangen. Er benötigte dringend einen Statusbericht.
Er gönnte sich eine Minute, bevor er es noch einmal versuchte. Gezielt steuerte er einen der vier Primärköpfe an. Das scheinbar einzig existierende HI-System saß am anderen Ende des Haupttrakts, im 80 Meter entfernten Kommandomodul. Er versuchte es über das sekundäre Rebootsystem und über externe Rettungsritter, doch das System weigerte sich, nochmals aufzustehen.
Es half nichts. Solange er im Kryotank festgehalten wurde, konnte er nichts machen. Das Stand-by-Menü blieb das Einzige, worauf er Zugriff hatte. Damit erreichte er immerhin die Lebenserhaltungssysteme. Der hiesige Kleinstreaktor befand sich im Ruhemodus, die Stromversorgung kam momentan aus der Mitte der Laborgruppe. Das war insoweit in Ordnung, da sich fünf örtlich getrennte Kleinstreaktoren während der Reise abwechselten. Das restliche Schiff lag gemeinsam mit den vereisten Menschen in einem tiefen, kalten Schlaf. Alle großen Systeme waren abgeschaltet. Die Anzeige sagte ihm, dass er 18.219 Tage tot gewesen war. Jören hatte Probleme, die Zahl in Relation zu sehen, doch sie kam ihm zu klein vor. Die Gesamtreisezeit war auf neunundachtzig Jahre relativer Bordzeit angelegt worden und davon hatte die PROKORINOS bereits gute zehn Jahre hinter sich, als er das letzte Mal ins Eis gegangen war. Die angegebene Kryozeit war viel zu kurz, um irgendwo angekommen zu sein. Über das sekundäre Überwachungssystem konnte Jören die Module entlang der Achse mit Sauerstoff fluten und die Heizanlagen einschalten. Es war der Weg zum Kommandomodul, den er gehen würde, sobald er sich dazu in der Lage sah. Das war alles, was er im Moment tun konnte. Was auch immer passiert ist, so schlimm wird's schon nicht sein, sagte er sich. Immerhin existierte das Schiff noch und war weder von einer Raumanomalie verschluckt noch von hungrigen Aliens verspeist worden. Er lebte, zumindest ein wenig - und er hatte allen Grund zur Annahme, dass sich sein Zustand von nun an bessern würde. Erneut musste er an Luna denken. Er ordnete dem medizinischen Programm an, ihm ein schmerzlinderndes Analgetikum und anschließend ein Schlafmittel zu verpassen. Es machte ihn verrückt, nichts über ihren Zustand zu wissen.

Luna hatte sich damals nicht so leicht abschütteln lassen. Nach dem medizinischen Vortrag lief sie schon wieder an seiner Seite.
"Na gut." Er hatte sich entschlossen, ihr eine Kostprobe seiner Sturheit zu geben, in der Hoffnung, sie sich damit künftig vom Hals halten zu können.
"Gehen wir in die Kantine?"
Luna Pérez sah ihn enttäuscht an. "Gibt es hier keine kleine, gemütliche Pinte?"
Kurz darauf saßen sie über Eck und mit überkreuzten Beinen auf schwebenden Kissen an einem Miniaturtisch in einer Untergrundbar, die selbst Jören noch nicht gekannt hatte. Zu fließenden 3-D-Wänden spielte eine angenehm unaufdringliche Hintergrundmusik ohne die üblichen Indoktrinationen. Hier wurden Drugs in allen Varianten angeboten, doch Jören bestand darauf, nüchtern zu bleiben. Er bestellte sich lediglich ein Getränk mit leichtem Chem, um die Stimmung etwas zu lockern, Luna bestellte sich das Gleiche.
Sie trug ein einfaches Shirt, eine abgewetzte Monteurhose und war ungeschminkt. Ein unkonventioneller und seltener Anblick.
Luna Pérez löcherte ihn mit Fragen, doch es gab vieles, an das sich Jören nicht erinnern konnte - und anderes, an das er sich nicht erinnern wollte. Ihre Art, ihn so unverhohlen auszufragen, belustigte ihn. An die Details des Gesprächs konnte er sich nicht mehr erinnern, nur daran, dass er permanent damit beschäftigt war, sie mit allgemeinen Statements und Gegenfragen abzufertigen. Letztlich blieb er länger sitzen als geplant. Aus den Fragen und Nichtantworten entwickelte sich ein Spiel, ein paar Stunden später waren sie beim Du angelangt und Luna wurde persönlich.
"Du hast noch nie eine Frau geliebt, stimmt's?" Sie sprach nicht von Sex.
"Sagt dir das deine psychologische Ausbildung?", fragte Jören.
"Ich bin eben neugierig", entschuldigte sie sich. "Das ist übrigens auch der Grund, weshalb ich mit auf diese Reise gehen will."
"Und auf was bist du neugierig?", drehte Jören das Fragespiel erneut um.
"Ich will herausfinden, ob es da draußen was Schlaues gibt. Und du?", holte sie das Ruder sofort wieder zurück, "Warum willst du auf diese Mission gehen?"
"Ich bin auf der Flucht", gab Jören zu. Es musste ihm herausgerutscht sein.
"Oh. Und vor wem?"
"GEOFLOTT."
Sie neigte ihren Kopf auf die Seite und musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.
"Und allen anderen", fügte er hinzu.
"Du fliehst vor der gesamten Menschheit?"
"Vermutlich. Ja. So wird es sein."
Luna verstand ihn sofort: "Dir ist es wohl zu eng geworden?"
Jören blickte sie erstaunt an.
"So kann man es auch sehen."
Jören nippte an seinem Getränk. Er bereute es bereits, so weit gegangen zu sein, und wollte das Thema beenden: "Wie du gesagt hast. Zu enge Beziehungen sind nichts für mich."
Luna verstummte. Dann befühlte sie seine künstliche Hand, als ob sie dort einen Puls finden könnte.
"Die Frage ist nicht so sehr, woher wir kommen, sondern eher, wohin wir gehen, nicht wahr?", meinte sie schließlich.
Jören musste zugeben, dass er begann, diese wissbegierige Person zu mögen. In ihren dunklen Augen funkelte eine Neugierde, in der ein Stück Unschuld mitschwang. Jören hatte sich so sehr damit beschäftigt, von diesem Ort wegzukommen, dass er sich die eigentliche Frage noch gar nicht gestellt hatte.
Wohin ging diese Reise?
Dann hatte er bemerkt, dass auch er ihre Hände in die seinen genommen hatte.


Die F.S. PROKORINOS befand sich auf dem Weg nach Arcturus, einem siebenunddreißig Lichtjahre entfernten System. Die Wissenschaftler an Bord wollten sich dort eine ungewöhnliche Knotenballung transdimensionaler Nullzeitlinien aus der Nähe ansehen. Ein Phänomen, das nach den gängigen Hypothesen nur künstlich erzeugt worden sein konnte und somit auf die Umtriebe einer extraterrestrischen Intelligenz hinwies. Man hatte eine Spur aufgenommen, die möglicherweise zu einem Kontakt, aber auf jeden Fall zu neuen Erkenntnissen und fortgeschrittenen Technologien führen würde. Dies war zumindest die Hoffnung von GEOFLOTT, dem Netzimperium, das sie auf den Weg geschickt hatte.
Einen eindeutigen Beleg für die Existenz interstellaren Lebens hatte es tatsächlich gegeben, jedoch erst, als die PROKORINOS bereits auf dem Weg gewesen war. Etwas war in das Sonnensystem eingedrungen.
Die gesamte Mannschaft der PROKORINOS war zu diesem Zeitpunkt in der Kryostase gelegen und hatte das Ereignis vollkommen verschlafen. Jören Neelström und Luna Pérez waren zusammen mit Quara Al-Thani und Demian Edman die Ersten, die von dem Besuch erfuhren. Sie bildeten Team eins, das neun Jahre nach der großen Beschleunigungsphase wieder geweckt worden war. Ihre Aufgabe war es, die mit Treibstoff gefüllten Kugeltanks einzusammeln, die ihnen hinterhergeschossen worden waren und nun in regelmäßigen Abständen eintrafen.
Als sie die Nachrichten und Berichte im Router fanden, waren diese bereits um Jahre veraltet. Sie waren zudem dermaßen wirr und konfus, dass es kaum möglich war, sich ein klares Bild zu verschaffen.
Von einem wandernden Schwarzen Loch, brennenden Himmeln und einer Alieninvasion war dort die Rede. Eine Armee von Geisteraliens drang in Basen, Raumstationen, Fabrikationsanlagen und Konzernbüros ein, HI-Systeme wurden mit außerirdischen Infiltratoren verseucht, man sprach von Spionen, die im Auftrag einer unbekannten Weltraummacht die Menschheit auskundschafteten. Alles gipfelte darin, dass ein Militärschiff zerstückelt und von einem Höllentor verschluckt worden war und die Menschheit auf dem Speiseplan von ausgehungerten Weltraummonstern stand.
Edman ärgerte sich maßlos, um dieses historische und einmalige Ereignis betrogen worden zu sein. Al-Thani hatte aus Wut geweint. Luna wäre am liebsten umgekehrt, um der Sache auf den Grund zu gehen. Für die Chance, einer außerirdischen Lebensform zu begegnen, hätte sie alles gegeben.
Auch Jören hätte dieser Kontakt brennend interessiert, auch wenn er kein Wissenschaftler war. Doch umkehren wollte er deswegen auf keinen Fall. Abgesehen davon stand das überhaupt nicht zur Debatte. Ein Raumschiff dreht man nicht mal eben um, um wieder nach Hause zu fliegen. Die PROKORINOS war zu diesem Zeitpunkt bereits über drei Lichtjahre vom Sonnensystem entfernt und hatte einen Auftrag zu erfüllen.
Der Spuk hatte auch nicht lange gedauert. Wie es hieß, hatte ARMATAG OBERWHERE die Initiative ergriffen und mit einem Militärschlag die Lage geklärt. Anschließend wurde noch ein Jahr lang über das Ereignis spekuliert, dann verebbte das Thema.
Abgesehen von einem verschwundenen Militärschiff gab es keinen wirklich ernst zu nehmenden Hinweis auf gezielte Aggressionen vonseiten der Besucher. Einige Stimmen bezweifelten infolgedessen, dass es sich überhaupt um eine Intelligenz gehandelt hatte. Möglicherweise war da nur eine unerklärliche Anomalie aus dem Weltraum aufgetaucht.
Jören bedauerte, dass sie keine seriöseren Informationen zur Verfügung hatten, doch das lag an der allgemein üblichen Art, in der Nachrichten verkauft und verbreitet wurden. Auch von GEOFLOTT hatten sie keine Details erhalten. Offenbar hatte man sie ohnehin vergessen. Von ihrem Heimatimperium waren nicht einmal mehr die Koordinationsabgleichungen hereingekommen, die eigentlich regelmäßig hätten eintreffen sollen.
Was den Besuch anbelangte, war sich Luna ihrer Sache absolut sicher: "Das ist die Antwort auf die Eiskugeln, die wir in den Weltraum geschossen haben."


Jören wusste nicht mehr, wie alt er gewesen war, als er zum ersten Mal die Geschichte mit den Eiskugeln gehört hatte: Konzernreiche schossen Menschen mit Kanonen in den Weltraum.
Zunächst hatte er das für einen Witz gehalten, doch dann fand er es in den offiziellen Geschichtsdokumentationen. Das Ganze war Anfang des vierundzwanzigsten Jahrhunderts praktiziert worden, also bereits vor hundertfünfzig Jahren und lange, bevor das erste bemannte Raumschiff in den interstellaren Raum aufgebrochen war.
Als Kanone diente ein Detruderwellenbeschleuniger. Die Kugeln waren aus Sollstoneis. Darin verpackt lagen die Kandidaten einer konzerneigenen Show, zu der nur Wissenschaftler und deren Assistenten zugelassen waren. Dem Gewinner winkte der Aufstieg in die Paradiesklasse. Die Verlierer wurden live eingeeist. Es gab auch Gerüchte, nach denen sich die Konzernreiche gegenseitig die Fachleute entführten und zwangsrekrutierten. Man nannte sie die Botschafter für die Außerirdischen. Lebende Musterexemplare.
Im Gegensatz zu einem Raumschiff besaßen die Eiskugeln weder einen Brems- noch Auftaumechanismus. Sie waren geradezu darauf angewiesen, von einer fremden Intelligenz aufgefangen und geborgen zu werden. Zu diesem Zweck besaßen sie Funksender, die in der Nähe einer fremden Sonne aktiv wurden. Ihr Inhalt sollte nach Möglichkeit zurück ins Leben gerufen werden. Die Chance auf einen Erfolg war dabei astronomisch gering. Um das zu kompensieren, verschossen die damaligen Konzernreiche Tausende solcher Kugeln. Das Material war billig. Und was die Menschen anbelangte, die waren noch billiger als das sie umgebende Eis.
All diese Kandidaten trieben noch heute durch die unendlichen Weiten des Weltraums. Eingepackt in Sollstoneis waren sie geschützt vor der kosmischen Strahlung und haltbar bis in alle Ewigkeit. Auch wenn alle Wahrscheinlichkeiten dagegen sprachen, war Luna davon überzeugt, dass der eine oder andere von extraterrestrischen Wesen aufgelesen worden war und die Außerirdischen nun ihrerseits einen Botschafter geschickt hatten. Die auf dreizehn Monate angesetzte Schicht von Team eins hatte sich aufgrund eines Zwischenfalls um fast vier Monate verlängert. In den wenigen Nachrichten, die noch eintrafen, wurde der Besuch kaum noch erwähnt. Er war ohne Folgen geblieben und hatte nichts als Fragen hinterlassen. All das lag inzwischen weit hinter ihnen.
Wie weit, wusste Jören nicht, aber wenn alles nach Plan verlaufen war, müssten die beiden Schichten nach ihm die restlichen Kugeltanks eingesammelt und die PROKORINOS auf ihre Endgeschwindigkeit von vierzig Prozent Licht gebracht haben. Das Raumschiff raste demnach seit Jahrzehnten antriebslos durch den Raum und müsste sich kurz vor Arcturus befinden. Doch irgendetwas war schiefgelaufen.