Das blaue Ende der Zeit
(...)
Waren es Stunden oder Tage, die ich in diesem Elend zubrachte? Ich hatte keine Ahnung. Als ob ich auf einen Bus warten würde, bewegte sich die Zeit nicht mehr. Zuweilen tauchte ich in erlösende Ohnmacht ab oder verfiel in fiebrigen Halbschlaf.
Irgendwann ließ der Schmerz etwas nach, wenn auch das Zittern noch hartnäckig blieb. Mir gelang es, die Augen zu öffnen, ohne sie zu zerraspeln. Eine schmutzige Betondecke schälte sich aus der Dunkelheit. Wie es aussah, befand ich mich in einem geschlossenen und dämmrigen Raum. Mehr konnte ich nicht erkennen und ich war nach wie vor nicht in der Lage, mich zu bewegen. Die beißende Luft zerkratzte mir die Atemwege. Unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen.
All das hatte doch erst heute Morgen angefangen? Es gibt Tage, an denen man mit dem falschen Fuß aufsteht. Dann gibt es Tage, da sollte man das Bett besser gar nicht erst verlassen. Doch heute Morgen war bereits alles zu spät gewesen. Ich war komplett aus dem Bett gefallen.
Nicht nur meine Papiere waren verschwunden, auch meine Frau hatte sich verflüchtigt. Und zwar mitsamt den beiden Kindern. Meine ganze Familie hatte sich in Luft aufgelöst. Hatte mich der Beamte anfangs als Penner eingestuft, so musste er mich langsam für durchgeknallt halten.
Es war natürlich ein Fehler gewesen, die Polizei um Hilfe zu rufen, das war mir irgendwann während des Verhörs klar geworden, doch was hätte ich tun sollen? An wen hätte ich mich wenden können? Etwa an Doktor Morena? Diese Ärztin war mir von Anfang an suspekt gewesen. Wollte mir glattweg eine Psychose einreden. Ich und Psychose!
»Was wollten Sie denn in der Cunostraße?«, wollte der Beamte wissen und unterbrach damit meine Gedanken. Diese Frage stellte er mir mittlerweile zum fünften Mal und ich fragte mich, ob er möglicherweise dämlich war.
»Was ich dort wollte? Ich wohne dort!«, herrschte ich ihn an. »Die Wohnung steht seit vierzehn Tagen leer. Weder eine Familie noch eine Einzelperson namens Brenner waren dort jemals gemeldet. «
»Dann fragen Sie die Nachbarn!«, schlug ich vor. »Das haben wir. Wir haben bislang niemanden gefunden, der Sie kennt.«
»Aber … meine Möbel, ein Teil von ihnen steht doch noch da!«
»Haben Sie die Möbel in die Wohnung gestellt?«
»Natürlich …!«
»Sie schlafen in diesem halben Bett, das wir dort vorgefunden haben? Wie machen Sie das, ohne herauszufallen?«
»Gestern war es ja noch ganz!«
»Und dieser Schrank?« Der Polizist beugte sich vor und sah mir forschend in die Augen. »Was genau haben Sie mit diesem Schrank gemacht?«
»Ich habe gar nichts gemacht!«
»Offensichtlich kann oder will er sich an nichts erinnern!«, mischte sich jetzt sein Kollege ein.
»Verweigerung der Identität, kein bekannter Wohnsitz, Einbruch in eine fremde Wohnung und mögliche Sachbeschädigung«, fasste mein Freund und Helfer meinen Tatbestand zusammen und hielt es so in seinem Formular fest.
Ich hatte mich in der letzten Stunde offensichtlich mit einem Betonschädel unterhalten und war nahe daran, von meinem Stuhl aufzuspringen und loszuschreien, wie es sich für einen echten Psychotiker gehört. Es gab nur einen einzigen, winzigen Gedanken, der mich davon abhielt: Vielleicht hatte diese Frau Doktor ja recht. Wahnvorstellungen hatte sie gesagt, etwas von irgendwelchen Symptomen und einem Unfall von vor zwei Wochen erwähnt. Ich konnte mich an nichts dergleichen erinnern. Angeblich hatte ich nie eine Familie. Wäre alles nur Einbildung gewesen.
»Na schön«, sagte ich resigniert zu dem Polizisten, »anscheinend habe ich hier wirklich irgendetwas nicht mitbekommen, fragen Sie doch mal bei dieser Frau Doktor Morena nach, die weiß anscheinend mehr als ich.«
»Doktor Morena? Wer ist das?«, fragte der Beamte, der das Formular gerade auf einen Ablagestapel legen wollte.



Diese Frage beschäftigte mich ebenso: Wer war diese Frau Doktor eigentlich? Ich kannte sie überhaupt nicht. Morena. Möglicherweise hatte ich diesen seltsamen Namen mal in einem alten Gruselfilm gehört, doch niemals im echten Leben. Sie hatte mich heute Morgen angerufen, um sich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen.
»Na, wie geht es uns denn heute, Herr Brenner?«
Der Kalender zeigte den 29. Juni 1998 an und mein Leben war zu Ende. Nichts war mehr wie zuvor. Der Tag begann damit, dass ich um 6.45 Uhr aus dem Bett rutschte. Schuld daran war, dass das Ruhelager eine ungewöhnliche Schieflage eingenommen hatte und das lag wiederum daran, dass die zweite Hälfte des Doppelbettes fehlte. Sie war einfach nicht mehr da, das Bett stand nur noch auf zwei Beinen. Natürlich war ich sofort hellwach und rappelte mich hoch. Nicht nur die Hälfte meines Bettes fehlte, sondern auch sein Inhalt: Meine Frau samt Decke und Kissen. Sie war auch nirgends in der Wohnung zu finden. Die beiden Kleinen, Peter und Lisa, waren ebenfalls fort. Wie ein aufgeschrecktes Huhn lief ich durch sämtliche Zimmer, doch sie waren alle weg. Was die Sache noch unheimlicher machte, war die Tatsache, dass auch die Möbel fast alle verschwunden waren.
Zuerst dachte ich, Nora hätte mich sitzen gelassen und wäre über Nacht ausgezogen. Aber wie hatte sie es fertiggebracht, das Bett in der Mitte auseinanderzusägen, ohne dass ich davon aufgewacht war? Und ein kompletter Auszug mitten in der Nacht? Frauen sind ja zu allem fähig, aber das …?
Dann sah ich diesen Schrank. Es waren nicht alle Möbel verschwunden. Meine Doppelbetthälfte im Schlafzimmer war ja geblieben, ebenfalls noch vorhanden waren im Wohnzimmer Couch und Fernseher, im Esszimmer der Computer, ein paar Teile in der Küche, ein paar Stühle hier und da, das Telefon und dieser Schrank im Flur. Das heißt, er war eigentlich nicht so richtig da. Er pulsierte durchsichtig, als wäre er gerade dabei, sich in Luft aufzulösen, konnte sich aber letztendlich nicht so recht dazu entschließen.
Als Nächstes stellte ich fest, dass ich eingeschlossen war. Jemand hatte die Haustür abgesperrt und ich konnte den Schlüssel nicht finden. Im Schlafzimmer hingen noch meine Sachen vom Vortag über dem Stuhl, doch der Hausschlüssel, der normalerweise in meiner Hosentasche steckte, war nicht da.
Nora, du Miststück, dachte ich mir, du hast wirklich an alles gedacht. Ich zog mich an, ging zum Telefon und rief die Nepperles an. Wahrscheinlich war Nora mit den Kindern bei unseren Freunden untergetaucht. Doch die gaben vor, mich überhaupt nicht zu kennen. Ganz klar: Nora hatte sich mit denen verschworen, denn als Scherz war das ziemlich übertrieben. Die Verschwörung nahm immer größere Ausmaße an, als ich den technischen Leiter im Theater anrief. Trotz meiner Panik fiel mir noch ein, dass heute Abend Warten auf Godot auf dem Plan stand. Das fehlte mir gerade noch. Unter diesen Umständen konnte ich kaum zur Arbeit gehen. »Kennen wir uns?«, fragte Eddie am anderen Ende der Leitung. Ich entgegnete ihm, er solle seine Scherze lassen, ich hätte hier ein ernsthaftes Problem und erklärte ihm, dass meine Frau mitsamt den Kindern (und Möbeln) verschwunden war, aber es interessierte ihn kein bisschen. Eddie blieb standhaft dabei, mich nicht zu kennen, obwohl wir seit vier Jahren Kollegen waren. Bevor er auflegte, gab er mir noch den Rat, mich an die Polizei zu wenden, wenn ich vermisste Personen zu melden hätte. Das tat ich dann auch.
»Kein Problem«, kam die beruhigende Antwort des Polizeibeamten am anderen Ende der Telefonleitung, »wir schicken gleich jemanden vorbei.« Na, wenigstens einer, der einem beisteht.
Dachte ich.
Ich sah zu dem Schrank, der pulsierend und halb durchsichtig im Flur stand. Vorsichtig näherte ich mich ihm, streckte die Hand aus, um ihn zu berühren, fasste jedoch durch ihn hindurch, ohne auf ein Hindernis zu stoßen. In meinem Kopf purzelte alles Mögliche durcheinander, aber nichts ergab einen Sinn. Wohin war Nora mit den Kindern, den Möbeln, meinem Haustürschlüssel und anscheinend auch mit meinen Papieren verschwunden? Und was zum Henker sollte dieses Kunstwerk von einem durchsichtigen Schrank hier im Flur?
In diesem Moment klingelte das Telefon und eine mir völlig unbekannte Doktor Morena erkundigte sich nach meinem Wohlergehen: »Na, wie geht es uns denn heute, Herr Brenner?«
»Wie es mir geht? Meine Frau und meine zwei Kinder sind spurlos verschwunden …«, begann ich, doch dann stockte ich. »Wer sind Sie überhaupt?«
Ihre Stimme irritierte mich, sie klang so tief und warm, dass mir für einen kurzen Moment der Verdacht kam, mit einer Telefonsexnummer verbunden zu sein. Jedenfalls handelte es sich um eine Stimme, die ich sofort wiedererkannt hätte, hätte ich sie jemals zuvor gehört.
Doktor Morena gab sich aber ganz im Widerspruch zu ihrer erotischen Stimme als meine behandelnde Ärztin aus und bestätigte dies auch sogleich mit einer Ferndiagnose: »Wie es scheint, haben sich Ihre Symptome verschlechtert.«
»Symptome? … Welche Symptome? Hier löst sich alles auf!«, stotterte ich. Die Frau Doktor versuchte mich zu beruhigen, indem sie so Dinge sagte, wie: »Alles wird gut«, und schlug vor, ich solle zu ihr in die Klinik kommen.
»Ein paar Tests würden nicht schaden.«
»Tests …?«
»Sie projizieren gewisse Wahnvorstellungen und leiden unter einem extremen Gedächtnisverlust. Das alles hat mit dem Unfall vor zwei Wochen zu tun«, erklärte sie mir.
Unfall? »Vor zwei Wochen?«, stammelte ich.
»Kommen Sie zu mir in die Klinik, ich möchte Sie umgehend untersuchen!«
»Ich kann mich an keinen Unfall erinnern!«
»Natürlich nicht, das ist ja gerade Ihr Problem!«
Ein Unfall, das klang irgendwie einleuchtend, trotzdem erklärte das nicht ganz diese absurde Situation.
»Meine Familie ist verschwunden, und mit ihr alle Möbel … das Kinderzimmer ist vollkommen leer!«, begann ich wieder von vorne.
»Herr Brenner, Sie haben überhaupt keine Familie. Das bilden Sie sich nur ein!«
Ich blickte auf eine weiße Wand. Gestern hing da noch ein Bild mit Nora, auf dem sie unseren kleinen Peter (der auf dem Bild vielleicht gerade ein Jahr alt war) freudig auf dem Arm getragen hatte. Der helle, rechteckige Fleck auf der Tapete war klar zu erkennen.
»Ich lass mich doch nicht von Ihnen verarschen!«, schnauzte ich in den Telefonhörer. Selbstverständlich hatte ich eine Familie! Zumindest hatte ich gestern noch eine. Will diese angebliche Ärztin mir ernsthaft erzählen, ich lebe hier alleine in einer leeren Fünfzimmerwohnung?
»Und dieser Schrank hier, der sich halb auflöst? Bilde ich mir den auch ein?«, fragte ich sie.
»Die Wahrnehmung Ihrer Umwelt ist gestört, Herr Brenner. Das sind aber nur die kleineren Nebenwirkungen Ihres Traumas.«
»Was soll denn das für ein Unfall gewesen sein?«
»Ich habe hier Ihre Krankenakte vorliegen, in denen die Ereignisse der letzten zwei Wochen festgehalten sind. Kommen Sie zu mir und ich kann Ihnen alles in Ruhe erklären.«
»Doktor Mu… Morelli … ich kenne Sie doch überhaupt nicht!«
»Doktor Morena. Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie. Vor zwei Wochen wurden Sie bei mir eingewiesen.«
Doktor Morena. Ein wirklich seltsamer Name aus einem Gruselfilm.



Das Einzige, worauf ich in meinem unbeweglichen Zustand starren konnte, war diese verrottete Betondecke. Von der Seite drang diffuses Licht herein und aus Richtung meiner Füße raschelte etwas. Zusätzlich vernahm ich ein röchelndes Geräusch, ebenfalls aus unmittelbarer Nähe. Irgendein Tier lag da neben mir und ich bildete mir ein, seinen Atem zu spüren. Nach wie vor lag ich auf dem Rücken und wagte nicht, den Kopf zu drehen. Mein Hals fühlte sich immer noch so an, als hätte jemand den Kopf dreimal um die eigene Achse gedreht. Was um Himmels willen hatte dieses Lichtgitter mit mir gemacht und wo war ich hier?
Selbstverständlich hatte ich eine Familie. So etwas kann man sich nicht einfach einbilden. Vor dreizehn Jahren hatte ich Nora kennengelernt und seitdem bildeten wir ein gutbürgerliches Paar wie aus dem Bilderbuch. Es war sicher keine glückliche Ehe, aber immerhin war es eine. Vor allem mochte ich meine Kinder.
Und nun soll ich plötzlich einen Unfall gehabt und mir all das nur eingebildet haben? Mein ganzes Leben zu einer Illusion verpufft, ein kompletter Gedächtnisverlust, habe gehört, so was soll’s geben.
Langsam verstärkte sich das Gefühl, dass mir der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.
Sie haben überhaupt keine Familie.
»Also noch mal: Doktor Morena, wer soll das sein?«
Der Polizeibeamte sah mich auffordernd an.
»Sie ist … meine Ärztin …«, antwortete ich. Vielleicht stimmte es sogar.
Der Beamte nickte seinem Kollegen zu: »Überprüfe das!«
»Habe mir doch gleich gedacht, dass der irgendwo entlaufen ist«, murmelte dieser und blätterte in einem Telefonbuch.
Unfallopfer. Gehirnschaden. Läuft seit zwei Wochen verwirrt herum und bildet sich ein, eine Familie zu haben. Bildet sich ein, Beleuchter zu sein und seit vier Jahren am Deutschen Theater zu arbeiten. Kann sich nicht an seinen Namen erinnern. Kann sich nicht an sein Leben erinnern. Vielleicht war es wirklich so einfach.
Aber da war noch etwas.
Die Fahndung … der Mord.
Dieser Japse ohne Kopf.
Warum hatte mich der Polizist eigentlich noch nicht danach gefragt?
Es kam sogar im Fernsehen.
Am Ende unseres Telefonats hatte Frau Doktor Morena mit der erotischen Stimme noch eine weitere Überraschung auf Lager: »Da ist noch etwas, das Sie wissen sollten, Herr Brenner. Sie werden gesucht! «
»Sonst noch was?«, fragte ich.
»Sie stehen unter Mordverdacht.«
Dann hatte sie aufgelegt.
Mord, na klar! Als ob ich heute noch nicht genug um die Ohren gehabt hätte. Instinktiv suchte ich die Wohnung nach einer Zeitung ab. Wenn da was dran war, müsste es in der Zeitung stehen, doch ich glaubte keine Sekunde daran. Natürlich war keine Zeitung zu finden, selbst das Altpapier hatte jemand entsorgt. Doch immerhin war der Fernseher noch da, inklusive der Fernbedienung. Ich zappte ein paar Kanäle durch und verwünschte mich dabei, dass ich wegen dieser unsinnigen Behauptung so nervös geworden war, bis ich auf eine Nachrichtensendung stieß. Das unschöne Foto einer kopflosen Leiche wurde soeben eingeblendet. Sie war in einen Bademantel gehüllt und lag neben einem Swimmingpool. Der Blutstrom aus dem kopflosen Hals hatte sich in das Becken ergossen und eine rote Wolke im Wasser hinterlassen. Die Sprecherin faselte etwas von ungeklärten Motiven und Umständen.
»… in der Mordsache Iwashita Toshiro gibt es noch immer keine neuen Erkenntnisse. Der Konzernmagnat wurde vor zwei Wochen im Obergeschoss seines Firmensitzes auf bestialische Art getötet …«
Vor zwei Wochen schoss es mir durch den Kopf.
Es folgte eine Videoaufzeichnung, die einer Überwachungskamera entnommen sein musste. In schräger Vogelperspektive und in schwarz-weißem Geflimmer konnte man darauf eine Gestalt erkennen, die am Rande des Swimmingpools stand. Vermutlich das Opfer, wenige Augenblicke vor dem Verbrechen. Der Mann war unverkennbar Asiate und steckte in demselben Bademantel, in dem er sterben würde, in seiner Hand hielt er ein Glas. Er schien mit jemandem zu reden, der jedoch außerhalb des Bildes stand. Plötzlich, von einem Moment auf den anderen war sein Kopf verschwunden. Man konnte nicht erkennen, ob er abgetrennt, weggeschossen oder sonst irgendwie entfernt worden war. Vermutlich haben die da was rausgeschnitten. Der Typ wedelte mit den Armen und sank zu Boden, während aus seinem Hals das Blut sprudelte. Ich fragte mich, seit wann die so etwas im Vormittagsprogramm zeigten. Die Sprecherin kommentierte die Szene sachlich und kühl: »… wurde dem Opfer in Sekundenschnelle der Kopf abgetrennt. Mit welcher Waffe dies bewerkstelligt wurde, ist jedoch nicht bekannt. Die Polizei schließt einen Ritualmord nicht aus, da der Kopf am Tatort nicht mehr aufzufinden war und die Polizei annimmt, dass ihn der Täter mitgenommen hat.«
Als das Opfer zu Boden ging, sah man eine zweite Gestalt mit einer Waffe in der Hand in das Bild laufen. Ganz offensichtlich jene Person, mit der das Opfer noch kurz zuvor gesprochen hatte. Die Videoaufzeichnung wurde angehalten und das Gesicht des Mannes vergrößert. Ich fiel rückwärts auf das Sofa, denn dieser Typ da im Fernsehen war ich!
»Der Täter hatte bis auf eine versteckte Videokamera sämtliche Sicherheitsanlagen umgangen und den größten Teil der Wachmannschaft getötet. Dabei ist er ungemein geschickt und brutal vorgegangen. Er handelte offensichtlich allein …« Das kann nicht ich sein, versuchte ich mich zu beruhigen. Doch dann kam es:
»Er ist circa ein Meter achtzig groß, hat kurze, dunkle Haare, ein kantiges Gesicht und trägt eine Waffe bei sich …«
Jetzt war ich völlig am Ende. Gedächtnis verloren und einen Mord begangen!
Iwashi was? Auch diesen Namen hatte ich noch nie gehört. Und seit wann kann ich Sicherheitsanlagen umgehen?
Die Polizei musste jeden Moment da sein! Ich Idiot hatte sie auch noch gerufen! Mir blieb keine Wahl, ich musste die Haustür eintreten und schnellstens von hier verschwinden.
Auf dem Weg zur Tür klingelte erneut das Telefon. Am Apparat war abermals die Frau Doktor. Sie machte keine Umschweife und packte die nächste Abartigkeit aus: »Gehen Sie in das Kinderzimmer. In einer Minute wird dort eine Art Energiefeld entstehen. Es wird für zwanzig bis dreißig Sekunden stabil sein. Springen Sie hinein!«
Ich begriff überhaupt nichts mehr.
»Seid ihr jetzt alle völlig übergeschnappt? Ich soll einen Iwashi Dingsda getötet haben? Wer ist das überhaupt?«, schrie ich außer mir.
»Wenn Sie bei mir sind, kann ich Ihnen all Ihre Fragen beantworten, jetzt haben wir aber keine Zeit dazu! Gehen Sie in das Kinderzimmer zu dem Energiefeld!«
»Energiefeld? … Was denn für ein Energiefeld?«, stammelte ich. Jemand klingelte an der Tür und eine Männerstimme ertönte von draußen: »Herr Brenner, sind Sie da drin?«
»Die Bullen!«, rief ich voller Panik.
»Gehen Sie in das Kinderzimmer, schnell«, gab mir die Frau die erneute Anweisung und beendete die Verbindung. Einen Moment lang starrte ich auf den Hörer in meiner Hand. Ritualmord schoss es mir durch den Kopf. Habe nie eine Familie gehabt. Energiefeld. Kinderzimmer. Ich rannte auf den Flur, blieb dabei am Kabel hängen und riss das Telefon scheppernd zu Boden.
»Wir sind jetzt da. Warten Sie einen Moment, wir öffnen gleich die Tür.«
Ich hörte, wie die Bullen an dem Schloss zu fummeln begannen. »Nicht nötig!«, schrie ich. »Alles in Ordnung!«
»Dann machen Sie uns bitte sofort die Tür auf!«
Energiefeld. Kinderzimmer. Das von Peter oder von Lisa?
Dieser pulsierende Schrank stand immer noch da. Von der Haustür kamen dumpfe Schläge. Sie werden sie jeden Moment aufbrechen. Ich rannte in Lisas Zimmer. Lisa, die nur in meiner Fantasie existierte. Ein leeres Zimmer. Gestern lag sie noch hier in ihrem Bettchen. Energiefeld? Was sollte dieser Quatsch? Wieder trommelten Schläge gegen die Haustür. Die Stimmen wurde lauter und bestimmter. »Öffnen Sie sofort die Tür!«
Ich rannte in Peters Zimmer und tatsächlich, da war etwas. Ein Loch in der Wand, in dem ein Netz aus Licht flimmerte. Noch so ein modernes Kunstwerk. Es schrumpfte gerade in sich zusammen. Von der Haustür kam der Lärm von splitterndem Holz und einer auffliegenden Tür, gefolgt von Schritten und knappen Befehlen. Ich wirbelte herum und sah zwei Polizisten mit gezückten Waffen in der Kinderzimmertür auftauchen. Als ich mich wieder der Wand zuwendete, war das Loch verschwunden.
»Ganz ruhig bleiben!«, sagte eine Stimme hinter mir.



Der Polizeibeamte wendete sein Formular hin und her, als ob er etwas Wichtiges vergessen hätte. Warum fragte er mich nicht nach diesem kopflosen Japaner? Wurde ich nun gesucht oder nicht? Ich unternahm einen beiläufig klingenden Anlauf: »Suchen Sie eigentlich immer noch nach diesem Ritualmörder?«
Der Beamte blickte auf.
»Wen?«
»Den Typ, der diesen japanischen Konzerntyp geköpft hat … kam heute noch mal im Fernsehen …«
Der Polizeibeamte drehte sich zu seinem Kollegen um, dieser zuckte lediglich mit der Schulter. Was ging hier eigentlich vor? Die haben überhaupt keine Ahnung! Doch dann beugte er sich abermals zu mir vor und sah mir tief in die Augen.
»Ein Ritualmord! Ah ja! Jetzt kommen wir der Sache schon näher. Erzählen Sie uns etwas darüber!«
Ich schluckte. Hätte ich bloß meine Klappe gehalten.
»Keine Ahnung … Habe es nur im Fernsehen gesehen, ist doch irre, oder?«
Der Kollege schüttelte den Kopf. Er schien seine Recherche beendet zu haben, ohne fündig geworden zu sein. Er hatte es nochmals über den PC versucht, nachdem seine Suche im Telefonbuch erfolglos geblieben war. »Es gibt in ganz Berlin keine Ärztin, die sich Doktor Morena nennt!«
Ehrlich gesagt wunderte mich das nicht. Der Beamte beugte sich über den Schreibtisch und redete jetzt zu dem Papier, das vor ihm lag: »Wir werden ihn morgen dem psychologischen Dienst vorführen. Sollen die sich ihn vorknöpfen.«
Die denken, ich habe eine Schraube locker.
Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte, mein Gegenüber hob ab, meldete sich ordnungsgemäß, lauschte einen Moment lang in die Leitung hinein und reichte mir anschließend den Hörer: »Ihr Rechtsanwalt möchte mit Ihnen sprechen!«
Na prima.
»Ich habe überhaupt keinen Rechtsanwalt«, entgegnete ich.



Nein, das hier war nicht die Arrestzelle. Dafür war die Decke zu weit entfernt. Außerdem wäre in der Zwischenzeit längst mal einer der Polizisten aufgetaucht. Da, wo ich jetzt lag, ließ man mich gerade sterben. Irgendwo raschelte es und neben mir vernahm ich dieses röchelnde Geräusch. Die Luft brannte in meinen Lungen. Alles in mir vibrierte.
Die Schmerzen vergingen nur langsam, während sich meine Körperteile anschickten, wieder zusammenzuwachsen. Der Elefant auf meiner Brust mauserte sich allmählich zu einem Pferd. Allmählich hob sich ein einzelner Schmerz aus der Masse ab, der vom linken Bein ausging. Etwas bohrte sich in den Unterschenkel. Ich versuchte, den Kopf zu heben, kam aber nicht weit. Ich hätte mich auf die Ellenbogen stützen müssen, um zu meinen Füßen sehen zu können, doch als ich die Arme anwinkeln wollte, hielt mich etwas an meiner rechten Hand fest. Langsam drehte ich den Kopf auf die Seite. Zu meinem Erstaunen war mein Arm heil. Ich hatte erwartet, auf einen völlig zerschundenen Körper zu blicken, aber es war nicht einmal eine Spur von Blut zu entdecken. Dennoch hielt mich etwas fest. Da war noch ein zweiter Arm, der zu jemand anderes gehörte. Er steckte in einer Polizeiuniform. Doch nicht er hielt mich fest, es waren die Handschellen, mit denen wir aneinandergekettet waren.

Ich erinnerte mich, dass ich nach dem Verhör zurück in die Arrestzelle gebracht werden sollte. Der Polizeibeamte hatte sein Formular endgültig auf einen Stapel geworfen, sein Nachbar war aufgestanden und hatte ihm etwas ins Ohr geflüstert, wobei ich die Wörter Ritualmord, möglicherweise gemeingefährlich und entlaufen heraushörte.
»Herr äh … Brenner, oder wie auch immer Sie heißen mögen«, wandte sich mein Gegenüber an mich, »die Anzeige auf Einbruch in eine fremde Wohnung bleibt bestehen. Sie bleiben unser Gast, bis wir Ihre Identität geklärt haben!«
Meine Identität. Gute Frage. Sein Kollege kam an meine Seite, dann hörte ich es klicken.
Ich ging also diesen Gang entlang. Besser gesagt, ich wurde gegangen. Wir waren auf dem Weg in die Arrestzelle und ich war mit Handschellen an den Kollegen gefesselt. Vielleicht hätte ich besser nicht nach dem Ritualmord fragen sollen. Hinter uns ging der Polizist, der mich vernommen hatte. Vor uns wurde eine Gittertür aufgesperrt.
»Die dritte Zelle«, hatte mein Anwalt am Telefon gesagt. »Achten Sie genau auf die Wand zwischen der zweiten und der dritten Zelle!«
Wir kamen an ein paar Türen vorbei, hinter denen eher Toiletten und Besenkammern zu vermuten waren.
Als mir der Polizeibeamte den Telefonhörer überreicht hatte, vernahm ich eine weitere unbekannte Stimme, dieses Mal die eines Mannes: »Herr Brenner, hier Mayer-Rammsberg. Ich soll Ihnen einen schönen Gruß von Doktor Morena ausrichten. Geben Sie jetzt um Himmels willen keinen Laut von sich und hören Sie mir genau zu!«
Ich fragte mich, was das jetzt wieder für ein Typ war. Er schien mit dieser Ärztin zusammenzuarbeiten. Die Tatsache, dass er mich auf dem Polizeirevier angerufen hatte, machte mich stutzig. Woher zum Teufel wussten die, dass ich genau in diesem Moment hier saß? Hatten sie von der Polizei von meiner Verhaftung erfahren? Und wer waren diese Leute überhaupt? Steckte da eine ganze Bande dahinter? Eine Organisation? Die Mafia?
»Leider waren Sie bei dem Versuch, Ihr Leben zu retten, etwas zu langsam. Wir versuchen es jetzt noch einmal, aber denken Sie daran, eine dritte Chance wird es nicht geben!«
»Wer spricht denn da …?«, fragte ich verwirrt.
»Halten Sie Ihre verdammte Klappe und hören Sie mir zu!«, schnauzte mich der Mann am anderen Ende der Leitung an. Der Polizeibeamte musterte mich schon wieder so seltsam.
»Hören Sie, Brenner, es bleibt uns leider nicht die geringste Zeit für irgendwelche Erklärungen. Ich werde erneut versuchen, ein Energiefeld zu generieren, durch das Sie gehen müssen. Lassen Sie sich von der fremdartigen Erscheinung nicht irritieren. Es ist für Sie die einzige Möglichkeit, aus Ihrer misslichen Lage zu entkommen.« Eine weitere Gittertür wurde aufgeschlossen.
»Wenn Sie es dieses Mal wieder nicht schaffen, kann Ihnen niemand mehr helfen! Zwischen der zweiten und dritten Zelle, merken Sie sich das! Es ist Ihre letzte Chance!«
Wir kamen gerade an der ersten vorbei. Schwere Stahltüren mit kleinen Sichtklappen.
Was blieb mir übrig? Die Polizei hatte meine Identität für nichtig erklärt, für die existierte ich nicht mehr. Meine Familie war weg. Nora, Peter, Lisa, alle waren verschwunden. Möglicherweise hatte ich einen Mord begangen.
Die Gittertür hinter mir fiel klappernd ins Schloss, das Rasseln des Schlüsselbundes hallte von den Betonwänden wieder. Neben mir wanderte gerade Zelle Nummer zwei an mir vorbei.
»Wir sprechen uns auf der anderen Seite wieder!«, hatte der Typ am Telefon zum Abschied gesagt. Andere Seite? Was sollte das heißen, auf der anderen Seite?
Und dann sah ich es, wie es sich neben mir in der Wand bildete. Besser gesagt, neben dem Polizisten, der mich abführte.
»Was zum Teufel ist das? He, Kurt, siehst du das?« Natürlich hatten es auch die Bullen bemerkt. Der hinter mir torkelte rückwärts und begann, an seinem Halfter zu fummeln.
Vor mir lag der Korridor eines Gefängnisses, die nächste Tür würde meine Arrestzelle darstellen. Neben meinem Führer hatte sich ein Loch in der Wand gebildet, gefüllt mit einem blaugrünen Gitter aus Licht. Meine Gedanken rasten. Wer war dieser Rechtsanwalt? Was hatte er mit der Frau Doktor zu tun? Unfall? Gedächtnisverlust? Ich konnte mich an die letzten zwei Wochen ziemlich deutlich erinnern, und natürlich an mein ganzes Leben davor. Nora! Die Kinder! Wir führten ein ganz normales Leben, was war nur passiert? All das soll nur eine Wahnvorstellung gewesen sein? Kein Zweifel, ich konnte weder einer Doktor Morena noch irgendwelchen Rechtsanwälten trauen.
Blöd, wie ich war, sprang ich dennoch.